Waldorfpädagogik

Wichtige Gedanken zur Entwicklung in den ersten Lebensjahren

Vorbild und Nachahmung

Mit unendlichem Vertrauen kommt das Kind aus der Sternenwelt auf unseren Planeten und zu seinen Eltern. Bereit zum Lernen und sich zu entwickeln. Orientierung geben ihm die Eltern und Erzieher als gute Vorbilder, die es zu eigenschöpferischen Nachahmung anregen.

Gehen – Sprechen – Denken sind Fähigkeiten, die das Kind zum einen aus eigener, individueller Intension entwickelt und zum anderen aufgrund seiner Fähigkeit nachzuahmen von seiner erwachsenen Umgebung lernt. Dabei ist nicht nur die äußere, sondern auch die innere Haltung der Eltern und Erzieher*innen wesentlich.

Mimik, Gestik und „der gute Ton“ werden von den noch ganz offenen Sinnen des Kindes wahrgenommen und in sein Wesen integriert. Das offene Aufnehmen durch die Sinnestätigkeit, das Verwandeln eigenschöpferischer Art durch die Nachahmung ist ein Individualisierungsprozess. Dessen Begleitung werden die Erwachsenen durch Liebe, Selbsterziehung und dem Reflektieren des eigenen Tuns gerecht.

 

Rhythmus schafft Vertrauen und Sicherheit

Tag und Nacht wechseln im regelmäßigen Rhythmus, Sterne bewegen sich in kosmischen Rhythmen, Pflanzen folgen in ihrem Wachstum den Jahreszeiten – Selbstverständlichkeiten, die uns Menschen Struktur und Sicherheit geben. Dies gilt insbesondere auch für das heranwachsende Kind.

Kommt das Kind in den Kindergarten, lernt es schnell einen rhythmisch angelegten Tageslauf kennen, wie: Freispiel – Aufräumen – Stuhlkreis – Reigen – Frühstück – Draußenzeit – Geschichte – Abholzeit oder Mittagessen – Ruhezeit – Spiel – Vesper – Abschluss.  Dieser Tageslauf ordnet sich zu einer rhythmisch gestalteten Woche, in der an jedem Tag eine bestimmte Tätigkeit gepflegt wird, z.B. Aquarellmalen, Bienenwachskneten, backen etc. Ebenso weiß jedes Kind, dass es z.B. mittwochs Müsli gibt und Eurythmie stattfindet. Dieser Wochenrhythmus wiederum ist eingebettet in den Jahresrhythmus, der sich in den Jahresfesten spiegelt.

Kinder lieben es, wenn es „wie immer“ ist. Ein gleichmäßiges Ein- und Ausatmen, das Hektik vermeidet und auch zeitlichen Raum zur eigenen Erforschung lässt, fördert die Harmonie in der leiblichen und seelischen Entwicklung. Der heranwachsende, rhythmisch arbeiten wollende  Organismus des Kindes findet so Unterstützung im Alltag. Das Kind, das nicht alltäglich sich neu entscheiden muss, sondern weiß, was montags, dienstags, mittwochs, donnerstags und freitags im Kindergarten passiert, kommt mit Vertrauen und gewinnt Sicherheit.

 

Bewegung schafft Sicherheit und Vertrauen

Groß ist die Freude der Eltern, wenn sich die unkoordinierten Bewegungen ihres Kindes nach und nach ordnen, das Kind sich aufrichtet und schließlich mit ersten tapsigen Schritten auf sie zugeht. Dadurch gewinnt es nicht nur das Empfinden von Freiheit, sondern auch die Voraussetzung für den Erwerb der Sprache.

Die Bewegung ergießt sich in das ganze Wesen des Kindes. Wachstum, Orientierung, Lernen und Fantasiefähigkeit wären ohne diese Gabe nicht möglich, die dazu auch seinen Willen stärkt. Es erobert sich die Raumverhältnisse durch Gehen, Springen und Rennen und ergreift seinen Körper durch Balancieren, Klettern, Schaukeln, Hüpfen und anderes mehr.  Eines der ursprünglichsten Ausdrucksmittel ist die rhythmische Bewegung, durch die das Kind seinen Fantasieerlebnissen Form geben kann.

 

Dreh dich um!

Dreh dich um, rundherum im Kreise!

Sing dazu!

Sing dazu eine frohe Weise!

Schnick, schnack, Dudelsack,

unser Kind will tanzen,

hat ein rotes Röcklein an, 

rundherum mit Fransen.

 

Je vielfältiger die orientierten, geführten Bewegungen sind, desto reicher ist das Seelenerleben, die Wahrnehmungsfähigkeit und desto differenzierter die Wirkung auf die Sprache. Das Kind kann sich immer sicherer und geschickter in seinen gegenwärtigen und zukünftigen Lebensraum stellen. Das bedeutet für die Erzieher, dass sowohl Grob- wie Feinmotorik gepflegt werden müssen. Deshalb sind Fingerspiele, Kneten, kleine Handarbeiten und Werken ebenso sinnvolle Tätigkeiten wie der tägliche, jahreszeitlich orientierte Reigen oder das Kreisspiel. Spätere Flexibilität, Kreativität und sinnvolles Ergreifen von überraschenden Situationen haben hier ihre Wurzeln.

 

Sprache – Kinder lernen sprechen in einer sprechenden Umgebung

 

Das Seidenwürmlein spinnt und spinnt

Sein kleines, rundes Haus,

dann schläft es wunderselig ein

und ruht sich lange aus.

Nun reckt es sich und streckt es sich

und stößt das Dach entzwei!

O Schmetterling im Frühlingskleid

nun breite deine Flügel weit

im lieben Sonnenschein.

 

Zunächst teilt sich das Kind in einer „Sprache“ mit, die nur dank elterlicher Liebe verstanden wird. Ein Krähen, Gurggeln und Brabbeln mit Strampeln und Zappeln erzählt die Geschichte vom Wohlbefinden des kleinen Kindes. Erst nach und nach formen sich Laute, wenn das Kind sich aufrichtet und der Kehlkopf sich im Laufe des ersten Jahres zu seiner Funktion als Sprachwerkzeug entwickelt hat. Sagt es dann die ersten Worte wie Mama, Papa, Auto usw. ist die Freude groß und schnell können wir immer besser mit ihm kommunizieren.

Sein Wortschatz wächst umso mehr, je mehr mit ihm nicht nur gesprochen wird, sondern auch sinnhafte Handlungen und Bewegungen in seiner Umgebung getätigt werden. Neben seiner Nachahmefähigkeit sind die Geste, die Grob- und Feinmotorik Voraussetzungen dafür, dass es überhaupt sprechen kann. Sprachfördernd wirkt auch eine emotionale Bindung, die Geborgenheit und Sicherheit vermittelt. Eine entscheidende Entwicklungsphase für die Sprachfähigkeit des Kindes ist die Zeit zwischen dem dritten und dem sechsten Lebensjahr.

Kinder lernen in dem Maße fein und artikuliert sprechen, wie sie mit den Fingern geschickt greifen lernen und mit den Beinen klettern und gehen können., denn die Bewegung ist sozusagen die Mutter der Sprache. Etwas begreifen und darauf zugehen können, prägt die Wahrnehmung aktiviert den Sprachentwicklungsprozess und bereitet eine immer qualifiziertere Denktätigkeit vor. Deshalb hören die Kinder im Kindergarten nicht nur Reime, Lieder, Märchen und Geschichten, sondern erleben Sprache und Bewegung in Fingerspielen, Reigen sowie in der autonomen Gestaltung des freien Spiels aus eigenen Ideen und in freier Kommunikation.

 

Spielen – eine ernstzunehmende Tätigkeit

„Wie in den kleinen Keimblättern die große Pflanze verborgen liegt und mit all ihren Knospen, Blüten und Früchten daraus hervorwächst, so ist im Spiel des Kindes sein ganzes Leben enthalten. Und wie die Pflanze sich nicht zu ihrer eigentlichen Schönheit und Vollkommenheit entwickeln kann, wenn ihre Keimblätter verkümmern oder verletzt worden sind, so kann  das Kind fürs ganze Leben Schaden leiden, wenn sein Spiel unterdrückt oder durch Eitelkeit und Unvernunft der Erwachsenen in die verkehrte Richtung gedrängt wird. Denn beim Spielen werden die im Kinde liegenden schlummernden Fähigkeiten geweckt, und Kräfte werden frei, die es notwendig für sein späteres Leben braucht.“

Ruth Zechlin

 

Es gibt eigentlich nichts dem Menschen zugehörigen, was Kinder im Spiel nicht erüben und erfahren. Ist es zunächst die eigene Leiblichkeit, die sie im Spiel mit Mund, Händen und Füßen im wahrsten Sinne des Wortes begreifen, werden bald Handschmeichler, Rasseln, Püppchen, Glöckchen und andere Dinge freudig erobert und abgetastet. Später werden in unendlicher Geduld Türmchen aufgebaut, wieder umgeworfen und entstehen aufs Neue. Immer mehr fängt das Kind Impulse seiner tätigen Umgebung auf, ahmt sie auf eigenschöpferische Weise nach und gestaltet so sein ureigenes, wohlbemerkt ernstes Spiel. Nicht von ungefähr wird die Zeit zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr das „Fantasiealter“ genannt, denn das Kind gibt unscheinbaren Dingen ihre Bedeutung im Spiel. Da werden Puppenkinder in Kastanien gebadet, Tücher zu Straßen und Klötze zu Rückspiegeln eines Reisebusses, der kurze Zeit später zum Schiff mutiert, von dem aus die größten Fische, z.B. in Form von kleinen Hölzchen oder Wäscheklammern geangelt werden. Das Kind orientiert sich dabei zum einen an der tätigen Welt der Erwachsenen, zum anderen kann es Erlebnisse verarbeiten. Ist das Kind „Schulkind“ im Kindergarten, kommt es zunehmend bereits mit Vorstellungen in den Kindergarten und organisiert danach mit Freunden sein Spiel, das zusammenhängende, sinnhafte Handlungen erkennen lässt und dabei auch schon Regeln aufstellt. Wenn diese „Arbeit“ der Kinder von Eltern und Erzieher*innen liebevoll angeregt und begleitet wird, erwerben sie sich nicht nur Fantasie- und Kreativitätskompetenz, die Voraussetzung für interessiertes Lernen ist, sondern haben auch Sprach- und Sozialkompetenz gut gepflegt. 

„Liebe Eltern, wenn ein Kind nach Hause kommt und berichtet, dass es heute viel gelernt habe, dann seien Sie bitte sehr vorsichtig, weil das Kind möglicherweise nur wenig gelernt hat. Kommt das Kind hingegen nach Hause und berichtet, dass heute gut gespielt wurde, dann dürfen Sie sehr zufrieden sein, weil das Kind dann mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr viel gelernt hat!“

Musikpädagoge und Komponist Zoltan Kodaly

 

Natur sinnhaft erleben und gestalten

Jeden Tag und bei jedem Wetter, geht es nach dem Frühstück an die frische Luft. Im Sommerhalbjahr geht es zumeist in den großen Garten, der durch die Art seiner Anlage die Fantasie und so das Spiel der Kinder anregt. Keine fertigen Spielgeräte blockieren ihren Tatendrang, nein, die der Natur abgelauschten Häuser, Höhlen, Kobel und anderes mehr sprechen alle Sinne der Kinder an. Und wenn es zu heiß ist, plätschert Wasser über die Steine in den Sandkasten, so dass kleine Seen und Kanäle entstehen können. Die etwas größeren Kinder üben sich im Seilspringen und im Stelzenlaufen und führen das gerne vor. Im Herbst, Winter und Frühling lädt die Waldreiche Umgebung zum Spaziergang ein, zum Balancieren über Baumstämme, Springen über Gräben und Bauen von Zwergenreichen.

Einmal in der Woche wird in der wärmeren Jahreszeit morgens das Rucksäckchen gepackt und die nähere Umgebung des Kindergartens beim Wandertag erforscht. Käferlein, Raupen und Schnecken werden unter die Lupe genommen, Enten und Fische im kleinen See freudig entdeckt. Das Picknick im Grünen schmeckt besonders lecker und rechtzeitig um 12 Uhr sind alle wieder zum Mittagessen im Kindergarten.

 

Feste krönen den Kindergartenalltag

Den Wandel der Jahreszeiten erleben die Kinder täglich bei ihren kleineren und größeren Ausflügen in die Natur. Sie beobachten wie im Winter die Erde schläft, im Frühjahr erwacht, das Blühen und das Reifen der Früchte im Sommer und die reiche Ernte im Herbst.

Nach den Sommerferien, wenn das Kindergartenjahr beginnt, wird Getreide gedroschen, gemahlen, gebacken, Früchte werden geerntet und gesammelt und ein reiches Erntedankfest gefeiert. Bunte Blätter fallen, die Natur zieht sich zurück und die Tage werden kürzer. Die Kinder bauen im nahen Wald Reiche für die Zwerge, damit ihr Näschen nicht erfriert, wenn sie im Winter mal neugierig hervorschauen. Dafür schenken sie wiederum den Kindern ein helles Licht, das am Laternenfest das Dunkel des Waldes erhellt, wenn Eltern und Kinder zur St. Martinszeit mit ihren Laternen singend in den Wald ziehen. Und in dem einen oder anderen Zwergenhaus glitzert vielleicht ein Edelstein…

Ist das Kerzenlicht zu St. Martin noch umhüllt, strahlt es offen und hell in der Adventszeit, die mit vielen Apfellichtern auf einer Spirale aus Tannenzweigen, dem sogenannten Adventsgärtlein, am ersten Advent begrüßt wird. Kurze Zeit danach klopft es an der Gruppentüre und – der Nikolaus in einen blauen Sternenmantel gehüllt, kommt zu Besuch. Äpfel, Mandarinen, Nüsse und Lebkuchen sowie eine wunderschöne Geschichte von Maria und dem Kind bringt er mit.

Ein Höhepunkt im Festeskreis ist das Weihnachtsfest. Der Duft von Weihnachtsgebäck, Tannengrün und Kerzen zieht durch das Haus und Kinder mit roten Bäckchen arbeiten fleißig mit. Fast ganz im geheimen ziehen sie Kerzen und basteln kleine Geschenke für die Eltern. Ein Geschenk für diese ist sicher auch das Krippenspiel, welches die Kinder ganz innig mit ihren Erzieher*innen am Weihnachtsfest im Kindergarten aufführen. Nach Neujahr folgen die Heiligen Drei Könige dem Stern zum Kind und kaum ist der Duft von Weihrauch und Myrrhe in die nun wieder längeren Tage gezogen, da treiben die Kinder mit dem Faschingsfest den Winter aus.

Schneeglöckchen läuten den Frühling ein, Veilchen blühen und die Kinder erfreuen sich an kleinen Blumensträußchen. Im Kindergarten werden kleine Küken oder Hasen gebastelt, Eier bemalt und der Osterkranz damit geschmückt. Jeden Tag kommt ein Ei dazu, bis an Christi Himmelfahrt 40 Eier am Osterkranz hängen. Das Pfingstfest wird etwas stiller gefeiert, weiße selbstgebastelte Vögelchen fliegen jetzt um den Osterkranz. Im Garten und auf den Wiesen werden die Schmetterlinge in ihrer bunten Vielfalt bewundert, die Blumen werden bunter und Johannikraut und rot reifende Johannisbeeren künden das Johannifest an.

Das Kindergartenjahr neigt sich dem Ende entgegen. Tüchtig haben die Schulkinder an ihren „Schulkindarbeiten“ geschafft und der ganze Kindergarten bereitet sich auf das große Sommerfest vor. Zirkusreigen oder Sommertänze werden in dieser Zeit geübt und am Sommerfest den Eltern vorgeführt. Ein buntes Treiben mit vielen Spielen lässt das Kindergartenleben Revue passieren. Für die „Schulkinder“ heißt es Abschied nehmen und die anderen freuen sich auf das neue Jahr – nicht nur wegen der schönen Feste!